"Make love not war!" geht nicht

 

 

Die Zeiten haben sich geändert 

 

Krieg. Krieg. Krieg. Ich schau mir keine Nachrichten mehr an. Mir ist das zu viel. Vielleicht sollte ich meinen Fernseher wegschmeißen. Aber hilft das?

 

Die Fragen sind trotzdem da. Ich kann ihnen nicht ausweichen. Warum gibt es wieder Krieg? Das, was unser Leben und unser Wohlergehen bedroht, ist sehr viel näher gerückt. Unter Berücksichtigung der heutigen Reichweite von Waffensystemen lauert der Krieg vor unserer Haustür. 

 

Ich fühle Wut und Trauer.

 

Verzweiflung und Ohnmacht sind keine guten Ratgeber, darum versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Das gelingt mir am besten, wenn ich schreibe. Die Fragezeichen im Kopf suchen nach stimmigen Antworten und wollen Klarheit. Es sind meine Gedanken, meine Erfahrungen, mein Wissen, meine Worte, meine Gefühle, die diesen Text entstehen lassen. Das wird also ein ganz subjektiver Artikel. 

 

Das Erste, das ich jetzt spüre, ist Energie. Sie ist beschwingt und liebevoll, sie kommt von mir, aus mir. Sie sagt mir: Go for it! Tu es! Schreib! Ich will loslegen, aber da ist noch etwas … Es gibt eine zweite Energie, machtvoll und stark. Sie rüttelt an meiner Tür. Ich geh‘ hinaus und schaue nach. Es stürmt. Wow, so ein starker Sturm! Der Sturm hält kurz inne, er ist höflich und stellt sich mir vor: 

 

Gestatten, ich komme von der Mehrheitsmeinung. Ich erzeuge starken Gegenwind

 

Der Sturm bläst mir eisig ins Gesicht. Und er sagt mir seinen Namen. Stürme haben ja Namen, das wissen wir vom Wetterbericht. 

 

Und weiter: 

Gestatten, ich heiße 'Alternativlosigkeit' und verkünde dir und der Welt meine Wahrheit:

 

Verzagt nicht!

Putin muss einsehen, wie stark der Westen ist.  Die Zeiten haben sich geändert. Wir müssen wieder lernen zu kämpfen. Ich sage euch, es wird viele Opfer geben, hunderttausend Tote, viel Zerstörung, unfassbares Leid und ganz viel Schmerz. Große Bevölkerungsgruppen werden verarmen, der Mittelstand wird wegbrechen. Die Leute werden ihre Mieten nicht mehr bezahlen können und im Winter werden sie frieren, weil ihnen das Geld fürs Heizen fehlt. Doch das ist nicht schlimm. Ich verspreche euch –  ihr werdet bald wieder lachen und ihr werdet frei sein! Fürchtet euch nicht, denn ich kann dafür sorgen, dass es gerecht dabei zugeht. Ihr werdet belohnt. Wer den gerechten Krieg will, den unterstütze ich mit meiner Energie. Bedingungslos. Ich bin stark. Ich verhelfe euch dazu, dass die Gerechtigkeit siegt.

 

So ein Großmaul! Mir bleibt kurz die Spucke weg. Ich mach die Tür wieder zu. Ich glaub ihm nicht, diesem Sturm, denn ich weiß, die Menschheit hat sich seit Kain und Abel weiterentwickelt. Sie kann viel mehr, als ihr zugetraut wird. Sie ist nicht mehr dazu verdammt, Konflikte auf dem Schlachtfeld auszutragen. Weil das so ist, darum denke ich anders. Es besteht heute keine Notwendigkeit mehr, dass wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen und blutrünstige Kriege führen. Wir sind dazu fähig, auch schwierige Konflikte ohne Blutvergießen zu lösen. Durch Kommunikation. 

 

Kommunikation – ach wie lieb! 

 

Der Sturm drückt meine Tür aut. Er bläst mir jetzt Eiskörner ins Gesicht und lächelt. Bitte hör auf damit, höre ich mich sagen. Ich habe gute Argumente. Krieg ist nicht alternativlos. Wir können Konflikte durch Kommunikation lösen, das behaupte ich nicht nur einfach so. Diese Lösungsmöglichkeit ist um einiges realistischer, als das illusionäre Versprechen vom gerechten Verteidigungskrieg. Du und dein Konzept der Alternativlosigkeit, du willst mich nur herausfordern. Okay, okay. Ich nehme an. Ich halte dagegen. Ich will dir zeigen, dass es anders geht. 

 

Na gut. 

Der Sturm hört auf zu blasen.  

Ich habe ja eine Lösung. Bin gespannt, ob du auch eine Lösung hast.

 

Ich bemüh' mich. Dazu ist es zunächst hilfreich, ein konkretes Konflikt-Beispiel zur Hand zu haben. Die Ukraine eignet sich als Anschauungsmodell. Sorry Sturm, aber du hast damit angefangen, nicht ich. Und sorry an alle, die sich jetzt Augen und Ohren zuhalten, weil sie nichts mehr von diesem Krieg sehen und hören wollen. Aber ohne ein konkretes Anschauungsmodell geht es nun mal nicht.

 

Soll so sein. Also die Ukraine.

 

Schlagartig wird mir klar, dass es so gut wie unmöglich ist, sich nicht von den tief gespaltenen Positionen zum Ukrainekrieg in irgendeiner Weise lenken zu lassen. Nicht mit dem Strom zu schwimmen und nicht gegen den Strom zu schwimmen, fühlt sich für mich an wie Gas geben und Bremsen gleichzeitig. Ich brauche Orientierung. Wer hilft mir? In Zeiten, in denen Niedergangskräfte dominieren, kommt es auf den ganzen Menschen an, auf den Entschluss, Neuland zu schaffen in sich selbst und in seinem Wirkungskreis, das hat Rudolf Steiner gesagt. Was für ein Anspruch. Ich bemüh' mich wirklich sehr.

 

Ist auch notwendig, weil meine Geduld geht langsam zu Ende.

 

Puh. Warum machst du so viel Druck? Also. Der Unkraine-Konflikt hat eine längere Geschichte, wie die meisten Konflikte. Natürlich ist die Chronologie wichtig. Wer hat agiert, wer hat reagiert. Anyway. Ich beschreibe hier nur das, was vor zwei Jahren geschah und was jetzt ist. Das ist nicht so komplex. Die Ukraine wurde am 24. Februar 2022 von Russland angegriffen. Das war völkerrechtswidrig, ein Verstoß gegen das Gewaltverbot der Vereinten Nationen. Ein Angriffskrieg bedeutet Gewalt, Angst und Leid für die Bevölkerung. Die Ukraine erlebt seither im Westen eine beachtliche Welle des Mitgefühls und der Solidarität. Die Spenden- und Hilfsbereitschaft für die vom Krieg schwer getroffenen Menschen ist groß und ungebrochen, was wunderbar und zutiefst menschlich ist. Zwischenzeitlich lässt sie etwas nach, was auch verständlich ist. Der Krieg dauert nun schon fast drei Jahre. 

 

Und so wurde der Konflikt Ende 2022, Anfang 2023 in der österreichischen Medienlandschaft dargestellt. Ein Beispiel aus dem Nachrichtenmagazin PROFIL:

 

...Die ukrainische Armee tut unter großen Opfern alles, um den westlichen Verbündeten zu beweisen, dass ein Sieg möglich ist. Die öffentliche Meinung im Westen sollte das Ihre beitragen. Von uns wird erwartet, dass wir ausreichend Leidensfähigkeit zeigen, wenn Energiepreise und Inflation davongaloppieren. Der Westen ist stärker, als Putin und viele andere dachten.

...

Die Stärke der eigenen Seite anzuerkennen, hat nichts mit Arroganz zu tun, denn sie rührt von der Überzeugung, dass eine Niederlage unvorstellbar ist. „Putin kann diesen Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen“, sagte US-Präsident Joe Biden am 26. März bei einem Besuch in Warschau. Anders formuliert: Die freie Welt darf nicht zulassen, dass rücksichtslose Gewalt eine Demokratie zerstört.

...

Nicht, dass die Frage falsch wäre, sie wird irgendwann vielleicht die ganze Welt beschäftigen. Aber erst muss Putin klar gemacht werden, dass die Fortsetzung seines Angriffskrieges vergeblich ist, und das kann nur dadurch erreicht werden, dass die Ukraine militärisch gestärkt wird. Das klingt nicht nach Frieden. Und doch ist es derzeit wahrscheinlich der beste Weg dorthin.

(Robert Treichler; Auszug: PROFIL vom 17.9.2022 und 25.2.2023)

 

So. Und jetzt?

 

Da stimmt doch was nicht! Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Bei Lichte betrachtet sind diese Aussagen nichts anderes als Kriegsrhetorik, mehr noch – und ich finde sogar, das ist arrogante Kriegspropaganda. Einem Land Waffen zu liefern, und zwar so lange, bis ein „Siegfrieden“ gegen Russland errungen werden kann - koste es, was es wolle - ist kein Zeichen von Solidarität. Wer so argumentiert, der will Krieg. Waffen sind zum Töten da und zum Profite machen. Das weiß jeder. Außerdem ist allein die Vorstellung, dass mit Russland eine Atommacht besiegt werden soll, extrem beunruhigend. Der amerikanische Präsident Joe Biden konnte oder wollte den Ukrainischen Verteidigungskrieg bis jetzt nicht beenden. Uns hat er nicht informiert, warum. Die westliche Welt setzt nun auf seinen Nachfolger Donald Trump. Und das ist nun wirklich kein Geheimnis: Die Ukraine kann nur siegen, wenn die USA das militärisch ermöglichen. Aber was heißt das denn konkret? USA gegen Russland mit Atombomben? Ein Waffenstillstand durch einen Deal der Großmächte liegt in der Luft. Dazu mögen sich bitte alle Völkerrechtsexperten, Philosophen, Politiker, Militärexperten, die Medien und hoffentlich viele Friedensaktivisten äußern. 

 

Netter Versuch. Und was ist mit DEINER Lösung? Du schilderst mir, wie schwierig das alles ist und schiebst die Verantwortung auf Experten ab.

 

Nein, tu ich nicht. Bekanntlich ist das erste Opfer in jedem Krieg die Wahrheit, die stirbt nämlich zuerst. Propagandistische Wahrheitsverdrehungen sind nichts als Lügen, man kann sie gut an vermeintlichen Kleinigkeiten erkennen. Es sind Schlüsselwörter, auf die man achten muss und dann beobachten, was mit ihnen gemacht wird. Hier nur ein Beispiel: Ein unsympathischer Begriff wird geframed, das heißt, er wird umbenannt. Waffenlieferungen werden umbenannt in Waffenhilfe, von jenen Akteuren, die die Ukraine mit Waffen versorgen. Framing ist das moderne Gesicht subtiler Manipulation. Seither berichten unsere Qualitätsmedien im Ukrainekonflikt nicht mehr über Waffenlieferungen dorthin, sie berichten über Waffenhilfe. Und wer hat schon etwas gegen Hilfe? 

 

Hey, hey! Das ist doch nur bemühte Wortklauberei. Du verrennst dich in sprachliche Spitzfindigkeiten. Ich kann deiner Argumentation nichts Substanzielles abgewinnen.

 

Das ist gemein. Und es stimmt nicht! Ich mach' jetzt meine Tür wieder zu und schließe ab. Hörst du!

 

Natürlich stimmt das, was ich sage. Wir werden schamlos belogen und sollen es nicht merken. Wir sollen uns nicht schlecht fühlen, wenn die gelieferten Waffen dazu verwendet werden, um tausenden Menschen alles zu nehmen. Ihr Leben. Ist schon in Ordnung, ist nichts Schlimmes. Ist ja Waffenhilfe. Wir glauben an diese Lügen, weil sie so ansprechend verpackt sind, in etwas Freundliches und Gutes. Wem es jedoch gelingt, die verlogene Kriegsrhetorik, die Kriegspropaganda zu durchschauen, der kann es ganz leicht erkennen: Wahr ist – Krieg bleibt Krieg. Gewalt bleibt Gewalt und erzeugt nur neue Gewalt. In jedem Krieg, auch im gerechtesten aller Verteidigungskriege werden unschuldige Menschen getötet. In der Ukraine sollen das schon über 40.000 Menschen sein... 

 

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Moment. Halt! Stopp! Ich muss unterbrechen. Soeben wird meine Haustür aus den Angeln gerissen. Oh nein! Er ist wieder da. Er ist wieder da. Und er ist stärker geworden. Er bläst mich noch schärfer an als zuvor. Mein Kopf ist jetzt schneeweiß und übersät mit Eiskörnern, meine Gesichtshaut ist wie laminiert, verschmolzen mit einem beißenden Kältefilm, die Wangen brennen wie Feuer. Jetzt krieg ich wirklich Schiss. Du musst den Sturm beruhigen, denkt mein Kopf. Dir fällt schon was ein, du bist ja Psychotherapeutin. Beklemmt flüstere ich:

 

Hallo Sturm, bitte entspann' dich doch! Bitte beruhige dich! Ich bin nicht dein Feind. Ich versteh dich. 


Du lügst! Du bist eine Putin-Versteherin. 


Glaub mir doch, ich habe nichts gegen dich. Ich bin Therapeutin. Und deshalb weiß ich, wer sich wohlig entspannt, ruhig und sicher fühlt, der kann auf Wutanfälle verzichten, der muss nicht mehr kämpfen. Nicht im Innen und nicht im Außen. Nicht gegen sich und nicht gegen andere. Das Ergebnis ist dann Frieden. Frieden im eigenen Herzen, ein Mit-sich-selbst-gut-sein-können, Mit-sich-im-Reinen-sein. Ganz bei sich sein können. 

 

Bla, bla, bla. Das sind nichts als schöne Worte. Und warum soll ich mich entspannen? Ich bin der Sturm. Warte, ich blase mal deinen Kopf durch, dann kannst du besser denken. 

 

Ich rutsche auf den Eiskörnern aus, die inzwischen den ganzen Boden bedecken, verliere das Gleichgewicht und lande am Fußabstreifer. Den Sturm amüsiert das und er bricht in Gelächter aus.

 

Du Dummerchen! So ist die Realität nicht.

Ich bin nicht Mahatma Gandhi und du nicht Mutter Teresa! So einfach ist das.

Also! Hör endlich auf! Du sollst nicht spalten und die Gräben vertiefen. Wir müssen Putin besiegen. Ich habe die besten Argumente auf meiner Seite. Versteh doch endlich, ich will Frieden! Mein Name ist 'Alternativlosigkeit', darum ist ein Sieg gegen Russland der Weg zum Frieden!

 

Mir ist schwindlig. Ich brauche eine Pause. Ich sehe es ein und ich bekenne, ich habe mich verirrt. Beim bemühten ‚Schaffen von Neuland‘ bin ich in eine Sackgasse geraten. Aber was jetzt? Keine Ahnung. Ich muss nachdenken. Nachdenken. Innehalten. Heiße Tränen rinnen über meine Wangen, ein paar Eiskörner schmelzen und mein Gesicht wird langsam wieder frei ....

 

Ich werde manipuliert und ich lasse mich manipulieren. Ich will das nicht mehr.

 

Ich hab's kapiert. Es ist die Dualismusverführung - gehör’ ich zu den Guten oder gehör’ ich zu den Bösen? In diese Falle hat mich der Sturm gelockt. Ich gehe davon aus, ich gehöre zu den Guten. Die Guten schätzen die Lage - nicht immer-  aber doch oft richtig ein. Das nützt ihnen aber nichts, weil die Bösen mehr Macht haben. Mächtige können ihre Interessen durchsetzen. Die Reduktion auf zwei Optionen - Feind oder Freund - ist eine der ältesten Formen der Manipulation. Sie zwingt uns in ein Korsett, das polarisiert und keine echten Alternativen zulässt. Dabei gibt es viele Wege, Konflikte zu lösen und eine bessere Welt zu gestalten. Frieden ist eine solche Möglichkeit – und er beginnt oft nicht in Verhandlungssälen oder an den Frontlinien, sondern in uns selbst.