Welche katastrophalen Ausmaße frei flottierende Ängste annehmen können, zeigt die Fallgeschichte einer Klientin aus meiner Praxis. Die 40-jährige Frau kommt im November 2022 zu mir in die Praxis. Sie braucht Unterstützung, denn sie will sich scheiden lassen. Sie erzählt:
Im Herbst 2021 ist es los gegangen, am Höhepunkt der zweiten COVID-Welle. Ende November kam dann der Lockdown und die Regierung kündigte eine Impfpflicht an. Viele Menschen waren damals krank. Mir ging es aber gut, meinem Mann auch, wir beide hatten schon eine Coronainfektion durchgestanden. Kurz vor Weihnachten war ich ziemlich erkältet und machte „zur Sicherheit“ einen PCR-Test. Der PCR-Test war positiv.
Was dann passierte, das berichte ich im nächsten Absatz. Zuerst kläre ich eine wichtige Frage: Was passiert in so einer Situation, wenn die Betroffenen nicht traumatisiert sind? Ganz einfach. Gar nichts. Wenn beide Partner nicht traumatisiert sind, dann passiert gar nichts. Beide halten sich einfach nur an die Regeln. Ihr Beziehungsleben ist intakt. Und es kommt ja auch vor, dass ein Test falsch positiv anzeigt. Sie kommen mit der Situation klar und holen sich, falls nötig, ärztliche Hilfe. Abgesehen vom Corona-Chaos im Außen geht es dem Paar gut.
Anders verhält es sich bei traumatisierten Menschen. Sie haben ein „Sei-immer-auf-der-Hut-Nervensystem“, das sofort in den Alarmmodus umschaltet. Es ist, als ob eine innere Stimme sie laut anschreit: Schnell, bring dich in Sicherheit! Für einen Faktencheck hat dieses Nervensystem keine Zeit.
Was also passierte in der Beziehung dieses Paares? Sehr viel - so viel sei jetzt schon gesagt. Meine Klientin fühlte sich nach ein paar Tagen wieder gesund. Dass der PCR-Test falsch positiv anzeigte, war plausibel, doch das beruhigte ihren Partner nicht im Geringsten. Sein Nervensystem schlug heftig Alarm. Schließlich hatte ja die Regierung gerade den Krisenmodus verschärft. FFP2-Masken, Lockdown, Impfpflicht. Er schätzte die Situation brandgefährlich ein und nennt seine Frau eine „Virenschleuder“. Das Empfinden von tiefer Bedrohung, das ihn nun erfasst, ist abgründig. Und doch ist es so - sein Nervensystem schlägt zwar Alarm - aber - es lügt ihn an. Seine Panikreaktion ist eine Erinnerungsspur aus der Vergangenheit. Der Verstand kann das nicht realisieren. Der Verstand ist viel langsamer als die Angst. Es fühlt sich für ihn lebensbedrohlich an, jetzt, im gegenwärtigen Moment. Und leider kommt es für diesen Mann noch etwas schlimmer. Nicht nur das Nervensystem, auch sein Bindungssystem springt jetzt an. Sein Bindungsmuster wird aktiviert.
Der Mann meiner Klientin konnte nicht mehr gut schlafen, und wenn seine Partnerin sich räusperte oder mal husten musste, wurde er ungehalten. Er wurde zunehmend wütend auf sie, weil er von ihr nicht angesteckt werden wollte. Dann bat er sie, aus dem gemeinsamen Schlafzimmer auszuziehen, sicherheitshalber, wie er sagte. Von da an gab es keine Umarmungen und keinen Sex mehr. Er unterband jede Berührung mit ihr, weil er glaubte, sie könnte ihn anstecken und in Lebensgefahr bringen. Er trug Maske, wenn sie gemeinsam im Wohnzimmer saßen, beim Fernsehen. Und dann hatte sich seine Frau ‚böswilligerweise‘ auch noch entschlossen, sich nicht impfen zu lassen. Er war stinksauer auf sie. Die Distanz zwischen beiden wurde noch größer. Ein turbulentes halbes Jahr vergeht, das Paar lebt nebeneinander im selben Haus, und als die Regierung im Mai 2022 den COVID-Krisenmodus für beendet erklärt, gibt der Mann seiner Frau einen Kuss und will sie zurück ins Schlafzimmer holen. Und er will Sex. Die Frau macht nicht mit, sie zieht zu einer Freundin und will sich von ihm trennen. Kurze Zeit danach muss sie Polizeischutz beantragen. Ihr Mann verfolgt sie und er bedroht sie. Er ist verstört und akzeptiert nicht, dass sie ihn verlassen will. Er versteht die Welt nicht mehr. Es ist jetzt doch alles wieder normal ...